Inhaltsverzeichnis
Wissen to go – die Tigersprungschlucht
Da will ich hin! Mein erster Gedanke, als ich mich mit Bildern und Berichten über die Tigersprungschlucht in der südchinesischen Provinz Yunnan befasse. Als wir den Ort Qiaotou am Eingang der Schlucht passieren, bin ich mittendrin. Umgeben von einer mächtigen Kulisse aus gigantisch hohen Felsen und dem Jangtsekiang, der hier als reissender Gebirgsfluss lautstark durch die etwa 15 km lange, tiefste Schlucht der Welt tobt. Der drittlängste Strom der Erde donnert durch das atemberaubende Panorama, das in Worten kaum zu beschreiben ist. Aber allein die Zahlen sprechen für sich. Die Gipfel des Jadedrachen- Schneeberges mit knapp 5600 m im Osten und des Haba Xueshan mit fast 5400 m im Westen bilden die höchsten Stellen der Schlucht, deren Höhenunterschied zum tiefsten Punkt bei etwa 3900 m liegt. Diesen Kontrast in der Realität zu betrachten ist umwerfend. Ich will hier die Natur einsaugen, will wandern und bin überzeugt, dass diese Umgebung den Tiger in mir wecken kann!
Der Abstieg
Im kleinen Örtchen Walnussgarten mieten wir uns gegen Mittag ein. Wir befinden uns irgendwo zwischen der tiefsten und höchsten Stelle der Schlucht. Ich habe Hummeln im Arsch und kann es kaum erwarten los zu ziehen. Am frühen Nachmittag brechen wir endlich auf, um den Grund der Schlucht zu erkunden. Die Luftfeuchtigkeit nimmt stetig zu, während wir uns auf einem schmalen Pfad durch tropisch anmutende Pflanzen den Tiefen des Felsmassivs langsam nähern. Die ersten Schweißperlen bilden sich auf der Stirn.
Der Geräuschpegel des tosenden Flusses nimmt zu je weiter wir uns bergab und auf die Stromschnellen zu bewegen. Wir müssen schreien, um uns zu verständigen. Felsvorsprung um Felsvorsprung lassen wir hinter uns, bevor uns endlich das ganze Ausmaß des gewaltigen Naturschauspiels den Atem raubt. Rechts und links steigen die hohen, zerklüfteten Steinformationen gen Himmel. Dazwischen in der Enge der Schlucht peitscht der Jangtsekiang in hohen Wellen. Das Wasser schnellt durch starke Strudel getrieben in die Höhe und lässt ihn zu einem reissenden Gebirgsbach werden.
Ich bin überwältigt. Und wieder können Worte nicht beschreiben, was wir hier erleben dürfen. Der Rückweg raubt uns erneut den Atem. Diesmal allerdings vor Anstrengung. Der Aufstieg ist steil und die Sonne glüht auch am späten Nachmittag noch. Die schweißtreibende Wanderung rückt die Atemlosigkeit dank der grandiosen Eindrücke jedoch in den Hintergrund.
Die Legende vom springenden Tiger
An der schmalsten Stelle am Grund der Schlucht, so die Legende, soll eines Tages ein kühner Tiger mit nur zwei Sprüngen den dröhnenden Gletscherflusses überwunden haben. Über einen Fels in der Mitte des Stroms soll er so weit gesprungen sein, wie nie ein Tier zuvor. Wohlbehalten soll der stolze Tiger zum anderen Ufer gelangt sein. Ob er sich zu dieser Tat aufgrund einer Verfolgungsjagd hinreissen lies oder einzig, um den Fluss zu überqueren, ist genauso ungeklärt, wie die Frage, ob diese Erzählung der Wahrheit entspricht. Manch einer meint, es sei nur eine Erfindung der Tourismusindustrie. Andere glauben, ein Besuch zum Fusse der Tigersprungschlucht, die ihren Namen dieser Legende nach erhalten hat, würde das eigene Leben schlagartig verändern. Ebenso, wie sich das Leben des Tigers einst mit einem Sprung verändert hat.
Eine andere Perspektive
Auf der anderen Seite der Ortschaften entlang der Hauptstrasse ragen die Berge steil in die Höhe. Von unserem ersten Ausflug angefixt, nehmen wir uns für den nächsten Tag vor, die fantastische Szenerie von oben zu betrachten. Wir lassen uns einige Kilometer zurück in die Schlucht hinein fahren, um von hieraus hoch auf den Wanderpfad zu gelangen. Der eineinhalbstündige Aufstieg zum Dorf Bendiwan ist der anstrengendste Teil unseres Treks.
Schon auf halber Höhe wird uns ein phänomenaler Ausblick auf die Tigersprungschlucht geboten. Angekommen auf Höhe des Wanderwegs und somit auf dem Pfad, der uns in den nächsten Stunden zurück nach Walnussgarten führt, geniessen wir die gigantische Aussicht auf das Zusammenspiel des rasenden Flusses inmitten der steilen Felsen. Vorbei an Wasserfällen trotten wir in aller Gemütlichkeit durch die großartige Kulisse.
Mittagspause in asiatischer Outdoorgesellschaft
Die Terrasse des Halfway Guesthouses bietet einen phänomenalen Ausblick auf die Schlucht und wird von diversen asiatischen Reisegruppen zur Mittagspause genutzt. Die Minibusse vor der Unterkunft lassen den Schluss zu, dass die Touristen eine motorisierte Anfahrt geniessen durften. Die Kleidung der Chinesen und (vermutlich) Südkoreanern zeugt jedoch von großen Wandervorhaben für diesen Tag. Eine komplette Outdoorausstattung, teils sogar mit Wanderstöcken, schmückt die Reisenden. Nach dem Essen wird der Taschenspiegel gezückt, um für die offenbar bevorstehende Wanderung den Lippenstift noch einmal nachzuziehen. Es folgt das obligatorische Selfi.
Der Selfistick hierzu ist ohnehin ein Muss in jeder chinesischen Handtasche. Es kann also losgehen zum aktiven Teil des Tages. Böse Zungen, Stephans gehört wohl heute dazu, behaupten, die Touristen würden wahrscheinlich nur bis zum nächsten Felsvorsprung wandern und dann wieder umkehren. Unseren Erfahrungen nach zu urteilen, bewegen sich viele chinesische Touristen tatsächlich eher selten und nutzen stattdessen motorisierte Fortbewegungsmittel wie Kleinbusse, Elektrogefährte und Seilbahnen für den anstrengenderen Teil eines Ausflugs. Dafür wären die Damen und Herren sicher nicht so ausgestattet, sie laufen bestimmt bis hinunter in die Schlucht, nehme ich die Wanderer in Schutz. Doch Stephans vorurteilsbeladene Vorahnung soll sich erfüllen.
Eine Rettung in letzter Sekunde
Schon während der ersten halben Stunde unseres weiteren Weges begegnet uns die erste Reisegruppe, die sich schon wieder auf ihrem Rückweg befindet. Auf eine Andere treffen wir einige Zeit später und müssen nach genauerem Hinschauen feststellen, dass diese sich offenbar in einer äußerst prekären Situation befindet. Von der gegenüberliegenden Seite einer Felseinbuchtung sehen wir den Großteil der Truppe, der dicht an dicht mitten auf dem Pfad stoppt und zwei Männer einige Meter entfernt beobachtet. Augenscheinlich versuchen diese mit Zurufen ein Pferd mit einem Zweig zu füttern oder vielleicht auch mit ihm zu spielen. Die etwas scheue Reisegruppe wirkt wie das Publikum dieses Schauspiels, dass gespannt auf den Höhepunkt des Aktes wartet.
Minuten später zollen sie dem Spannungsgipfel dann auch den entsprechenden Beifall. Allerdings gilt der große Applaus nicht den beiden Pferdeflüsterern, sondern einem ganz anderen Akteur: Herrn Mink himself. Als wir die Situation aus der Nähe erfassen, stellen wir fest, dass das Pferd mit seinem Hinterteil ein Stück des relativ schmalen Weges versperrt. Die beiden „mutigen“ Männer versuchen es mit dem Zweig zur Seite zu locken, was ihnen aber offenbar nicht gelingt. Die anderen Teilnehmer halten gebührenden und durchaus ängstlichen Abstand. Die Szenerie erreicht ihren Höhepunkt an Absurdität, als Stephan das furchteinflössende Huftier mit nur einer Hand zur Seite schiebt und sich an ihm vorbeischiebt. Echtes Erstaunen und Erleichterung liegt in der Körpersprache der chinesischen Touristen, deren Dank ihrem ganz persönlichen Helden zuteil wird. Der mutige Ausländer bewahrt sie ziemlich wahrscheinlich davor, in dieser für sie scheinbar ausweglosen Situation, noch länger verharren zu müssen.
Weckt den Tiger in mir!
Wir schliessen unsere Wanderung erst mit Ankunft in Walnussgarten ab, erschöpft, aber hochzufrieden. Meine erste Eingebung, die Tigersprungschlucht auf jeden Fall besuchen zu müssen, erweist sich als absolut stimmig. Ich bin erfreut und begeistert zwei herrliche Tage in dieser wundervollen Natur zu erleben. Neue Energie und ein rundum stimmiges Wohlgefühl machen sich breit. Da ist wohl der Tiger in mir geweckt!
Hier geht es weiter.